Kein Corona-Schutz für Geflüchtete – Landratsamt missachtet RKI-Richtlinien

In den Gemeinschaftsunterkünften (GU) des Rems-Murr-Kreises häufen sich Corona-Fälle. Zuletzt war das Lager Wiesenstraße in Schorndorf betroffen. Die Bewohner:innen dieser Lager können sich und andere nicht ausreichend schützen. Wenn es um Geflüchtete geht, missachtet der Landkreis wichtige Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts (RKI). Sind diese Richtlinien realitätsfern und in einem Lagersystem gar nicht umzusetzen oder werden sie von den Verantwortlichen weitgehend ignoriert, weil ihnen das Leben und die Gesundheit der Geflüchteten schlicht egal ist?

Lager fördern Infektionen

Das hohe Infektionsrisiko in Lagern wird vom RKI bestätigt:

„Das Übertragungsrisiko virusbedingter Erkrankungen der Atemwege ist in Aufnahmeeinrichtungen (AE) und Gemeinschaftsunterkünften (GU) besonders hoch, da hier viele Menschen auf engem Raum zusammen leben und Wohn-, Küchen-, Ess- und Sanitärräume gemeinsam nutzen.“

Um dieses besonders hohe Risiko zu reduzieren, hat das RKI Empfehlungen <> für den Umgang mit Corona in Geflüchteten-Lagern veröffentlicht.

Während die Stadt Stuttgart Bewohner:innen aller Gemeinschaftsunterkünfte für geflüchtete und auch für wohnungslose Menschen durchtestet und einige hundert Plätze für Infizierte vorhält, werden im Rems-Murr-Kreis meist selbst bei Corona-Fällen in Unterkünften nicht alle Bewohner:innen des betreffenden Lagers getestet. Eine getrennte Unterbringung erfolgt in der Regel nicht oder nur auf dem Papier.

Keine Tests – mehr Corona

Im Oktober letzten Jahres wurde im Lager Wiesenstraße in Schorndorf ein Corona-Fall festgestellt, Mitte Januar diesen Jahres ein zweiter und Ende Januar wurden per Zufall weitere Fälle entdeckt <Schorndorf-Bericht>. Anscheinend wurden erst dann alle Bewohner:innen getestet.

In der GU Max-Eyth-Straße in Schwaikheim trat Ende letzten Jahres ein Corona-Fall auf. Die anderen Bewohner des Lagers wurden nicht getestet, obwohl einige von ihnen in Pflegeberufen arbeiten. Der Infizierte sollte sich selbst innerhalb der Unterkunft isolieren. Weitere Corona-Fälle in diesem Lager waren die Fol

Hier stellen sich Fragen: Hätten frühzeitige Schutzmaßnahmen und Tests die weitere Verbreitung von Corona in den Lagern verhindern können? Warum wurde nicht getestet?

Ausgangssperren statt Schutz

In Schorndorf wurde dann Anfang Februar eine Ausgangssperre für zwei Drittel der Bewohner:innen verhängt. Auch in der GU Aspach wurde eine Ausgangssperre erlassen und einmal verlängert. Berüchtigt ist die Ausgangssperre in der LEA Ellwangen, wo neunzig Prozent der Bewohner:innen infiziert wurden und einige zwei Monate lang eingesperrt waren <Ellwangen-Bericht>. Wir haben auch über die Ausgangssperre im Lager Hohenheimer Straße in Backnang berichtet, wo Infizierte und Nicht-Infizierte in gleichen Zimmer ohne Abstand zusammenleben mussten <Backnang-Bericht>. Mit der Verhängung von Ausgangssperren wurde jedes Mal öffentlichkeitswirksam, der Einsatz von Security zur Überwachung der Geflüchteten verkündet.

Massenquarantänen und Ausgangssperren schützen die Bewohner:innen nicht. Im Gegenteil, durch die erzwungene Benutzung von Fluren und anderen Räumen, von Küchen und Sanitäranlagen gemeinsam mit Infizierten steigt das Risiko für alle Bewohner:innen. Das RKI sagt deshalb. „

Es wird dringend empfohlen, eine Quarantäne der gesamten AE oder GU sowie das Errichten von (zusätzlichen) physischen Barrieren (Zäunen) zu vermeiden.“

Keine räumliche Trennung

Stattdessen empfiehlt das RKI

„eine räumliche Trennung in drei Bereiche von a) labordiagnostisch bestätigten Fällen (notwendig: Unterbringung in Isolation), b) Kontakten und Verdachtsfällen mit Möglichkeit zur Quarantäne sowie c) Nicht-(Verdachts-)Fällen/Nicht-Kontakten“.

Für die Doofen unter den Lager-Betreibern betont das RKI mehrfach, dass solch eine Trennung natürlich vorbereitet sein muss: „Um im Ausbruchsfall das Ziel der räumlichen Trennung in verschiedene Bereiche zeitnah realisieren zu können, sollten vorsorglich separate Unterbringungsmöglichkeiten vorgehalten werden (siehe oben). Eine weitere Möglichkeit könnte, je nach regionalen Voraussetzungen, die Schaffung einer gemeinsamen Isolationseinheit für alle Fälle aus Einrichtungen einer Region sein.“

In Lagern des Rems-Murr-Kreises müssen positiv auf Corona getestete und erkrankte Menschen mit negativ oder nicht getesteten Menschen auf engem Raum zusammenleben. Corona ist nun ja nicht mehr ganz neu. Wir fragen: Was hat das Landratsamt getan, um Geflüchtete vor Corona zu schützen? Welche Vorbereitungen für eine räumliche Trennung wurden getroffen?

Risikopersonen in Gefahr

Zu den Präventionsmaßnahmen gehört auch der besondere Schutz der älteren und vorerkrankten Menschen in den Lagern.

„Hohe Priorität hat während der Pandemie vor dem Hintergrund des hohen Ausbruchpotentials die frühzeitige Identifikation und Information aller Risikopersonen und deren separate Unterbringung, in der die medizinische Versorgung sichergestellt ist.“

Bei den Geflüchteten, mit denen wir in den verschiedenen Lagern gesprochen haben, ist davon nichts bekannt. Wir fragen daher an dieser Stelle: Wie viele Menschen über 60 Jahre leben noch in den Gemeinschaftsunterkünften des Rems-Murr-Kreises? Was wurde getan um Risikopersonen zu identifizieren? Welche separaten Unterbringungsmöglichkeiten existieren? Wie ist dort die medizinische Versorgung sichergestellt?

Oder orientiert sich das Landratsamt Rems-Murr am Regierungspräsidium Stuttgart, das Risikopersonen erst aus der LEA Ellwangen verlegt hat, nachdem sie positiv getestet worden waren.

Medizinische Versorgung fehlt

Im Quarantänefall jedenfalls ist die medizinische Versorgung miserabel. Das RKI fordert

„Verdachtsfälle und labordiagnostisch bestätigte COVID-19 Fälle müssen von einem Arzt oder einer Ärztin ggf. unter Einbeziehung von Sprachmittlung über die Diagnose bzw. Verdachtsdiagnose und damit verbundene Maßnahmen aufgeklärt und unverzüglich ggf. mit ihren engen Familienangehörigen isoliert werden.“

Diese ärztliche Aufklärung ist auch wichtig, weil dabei noch weitere Risikopersonen identifiziert und in Sicherheit gebracht werden könnten. Unter den Geflüchteten ist von einer solchen ärztlichen Aufklärung nichts bekannt.

Das RKI fordert auch die ärztliche Vorstellung von symptomatischen Personen und eine „aktive Gesundheitsüberwachung“ für Menschen in der Quarantäne. Bei Menschen in normalen Wohnverhältnissen erkundigen sich Gesundheitsämter hin und wieder nach dem Wohlbefinden. In den Lagern kann davon natürlich keine Rede sein. Eine Gesundheitsüberwachung findet in den Lagern des Rems-Murr-Kreises nicht statt. Viele Menschen in der Quarantäne können mangels Fieberthermometer nicht einmal ihre Temperatur kontrollieren.

Thermometer werden nicht zur Verfügung gestellt. Der Mangel an Desinfektionsmitteln wird allenthalben beklagt. Schutzmasken wurden zumindest in Schorndorf sehr spärlich verteilt, eine FFP2-Maske für zehn Tage. In Schwaikheim haben Ehrenamtliche OP-Masken verteilt.

Informationen unzureichend

Das RKI träumt von umfassender Information der Menschen in den Lagern. „

Es ist wichtig, dass BewohnerInnen und Personal engmaschig in den notwendigen Sprachen ggf. in Zusammenarbeit mit psychosozialen Zentren über die Situation in der Unterkunft und die laufenden Maßnahmen informiert werden. Es ist dabei zu berücksichtigen, dass ein Informationsmodus (z.B. ausschließlich schriftliche Information) ggf. nicht für alle BewohnerInnen geeignet ist (wenn z.B. Analphabetismus vorliegt). Es wird empfohlen BewohnerInnen Zugang zu Informationen und die Aufrechterhaltung von sozialen Kontakten durch entsprechende Medien (z.B. Internet, Fernsehen, Printmedien) zu ermöglichen.“

In Schorndorf waren viele Bewohner:innen nicht einmal informiert, ob die Quarantäne verlängert würde oder nicht. Sie fühlten sich im Stich gelassen. Es herrschte große Unsicherheit. In den Zimmern, in denen sie sich ja aufhalten sollten, gab und gibt es keinen brauchbaren Internetzugang.

Die mangelhafte Aufklärung, verbunden mit den halbherzigen oder gar nicht vorhanden Schutzmaßnahmen, fördert die Verbreitung von Verschwörungstheorien. Wer erlebt, wie wenig positiv und negativ Getestete getrennt werden, kann nur schwer nachvollziehen, dass Corona eine ernsthafte Gefahr ist. Etliche Geflüchtete glauben nicht (mehr), dass es Corona wirklich gibt. Sonst würden sie doch ganz anders geschützt werden!

Internet muss sein

Ein guter Internetzugang ist während der Pandemie unabdingbar. Zum Beispiel auch für das Home-Schooling. Betreiber von Lagern fühlen sich nicht zuständig oder verweisen auf technische Probleme, mangelnde Bandbreite und so. Das ist natürlich Unsinn. Internet-Provider können für große Wohn- oder Bürokomplexe sehr gute Internetzugänge zur Verfügung stellen. Das kostet natürlich Geld, das der Landkreis und die Landesregierung für Menschen in Lagern nicht ausgeben wollen.

Diskriminierendes Besuchsverbot

In allen GU-Lagern des Rems-Murr-Kreises besteht seit Monaten ein Betretungs- und damit ein Besuchsverbot. Die Grundrechte werden für Geflüchtete besonders eingeschränkt. Die Stadt Weinstadt zeigt in ihrem Lager in Großheppach, einer Anschlussunterbringung (AU), dass es auch anders geht. Dort ist der Besuch auf eine Person pro Zimmer beschränkt und damit ähnlich wie bei Menschen in Wohnungen. In Großheppach liegen GU-Lager des Landkreises und AU-Lager der Kommune nur wenige Schritte auseinander. Die Ungleichbehandlung hat mit Corona-Schutz nichts zu tun, sie ist Teil eines abgestuften Lagersystems.

Lagersystem wichtiger als Gesundheit

In Lagern des Rems-Murr-Kreises werden die Empfehlungen des RKI für Geflüchteten-Unterkünfte weitestgehend ignoriert. Die Gesundheit und das Leben insbesondere von Risikopersonen werden nicht im notwendigen Maße geschützt. Das RKI wendet sich mit seinen Empfehlungen in erster Linie an die Gesundheitsämter. Deren Handlungsspielraum ist allerdings sehr begrenzt, da der Landkreis auch nach einem Jahr Corona keine adäquaten Präventionsmaßnahmen getroffen hat.

Die Verantwortlichen des Landratsamtes und der Gesundheitsämter könnten mehr tun. Die dritte Corona-Welle ist angekündigt.

Alle Risikopersonen müssen sofort aus den Lagern!

Eine echte Verbesserung erfordert aber die Aufhebung des Lagersystems. Wenn Geflüchtete in normalen Wohnungen leben können, bedarf es keiner gesonderten Empfehlungen und Maßnahmen. Es wurde in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts zur Abschreckung eingeführt. Der damalige Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Lothar Späth, sagte es deutlich:

“Die Zahl der Asylbewerber ist erst gesunken, als die Buschtrommeln signalisiert haben: Geht nicht nach Baden-Württemberg, dort müsst Ihr ins Lager“ (Schwäbisches Tagblatt Tübingen, 5.5.1983).

No Lager! Wohnungen für alle!

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